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Benno Stehkragen
Karl Ettlinger




Karl Ettlinger

Benno Stehkragen




Zum Geleit

Als ich am 25. Juli 1916 morgens gegen halb acht Uhr erwachte, schloß ich sogleich geblendet die Augen.

Woher kam diese Helle? So viel Licht gab es doch in unserem Unterstand nicht?

Ich öffnete die Augen abermals, – ja, zum Kuckuck, wo war ich denn eigentlich?

Ich lag in einem frischgemachten, blütenweißen Bett, in einem großen, hellen Saal, ringsum Betten, ebenso blitzsauber wie das meine.

Du bist im Lazarett, sagte ich mir, aber mein Kopf brummte noch zu sehr von der Narkose, um diesen Gedanken voll zu erfassen.

Ja, ich war im Feldlazarett, und ich hatte eine Granatsplitterverletzung im Rücken und ein zerschossenes rechtes Ellbogengelenk.

Einige Tage später brachte mir unser vortrefflicher Leutnant Lindenberger etliche Gegenstände ins Feldlazarett, die in unserem zusammengeschossenen Unterstand gefunden und als mein Eigentum erkannt worden waren. Darunter auch ein Manuskript, durch das mitten hindurch ein Granatsplitter geflogen war.

Trotz meiner Schmerzen mußte ich lächeln.

Armer Benno Stehkragen, dachte ich amüsiert, dir ist es im Leben kümmerlich genug gegangen, – und jetzt wird auch noch die Aufzeichnung deiner Lebensgeschichte von einem Granatsplitter durchbohrt!

Einige Monate vergingen, bis ich mich wieder mit dem Manuskript beschäftigen konnte, das ich im Schützengraben begonnen und an dessen Vollendung mich meine Verwundung gehindert hatte.

Man darf sich da freilich kein säuberliches, einseitig auf schönes weißes Papier geschriebenes Manuskript vorstellen, wie es die Wonne der Redaktionen und Setzereien zu bilden pflegt. O nein, dieses Manuskript bestand aus Papieren allen möglichen Formates und aller möglichen Farben: Briefbogen, umgedrehte Umschläge von Briefen, die an mich gekommen waren, Rückseiten von Prospekten, Meldezettel, kurz ein Manuskript so kraus, wie es der leibliche Benno Stehkragen selbst ist.

Unter erschwerten Umständen führte ich die Novelle zu Ende: der Gebrauch der rechten Hand ist mir ja versagt, und ans Diktieren kann ich mich leider nicht gewöhnen. Aber ich hatte meinen tragikomischen Helden Benno viel zu lieb gewonnen, um das Werk in der großen Schublade für unvollendete Entwürfe verschmachten zu lassen.

So ziehe denn hinaus, mein lieber, kleiner, buckliger Benno!

Deine Lebensreise war voll Beschwernisse, und wer weiß, ob dir deine Reise auf den Büchermarkt besser bekommen wird! Vielleicht wirst du dir mehr Feinde als Freunde erwerben. Aber habe keine Angst: ich, dein Vater, behalte dich dennoch lieb.

Du hast mir manche trübe Stunde im Schützengraben erhellen helfen, du bist mein lieber Kriegsjunge, und wenn du deinem Papa eine besondere Freude machen willst, so erhelle nun auch etlichen Kameraden draußen und im Lazarett ein bißchen die Stunden der Trübheit!



    Karl Ettlinger


Ich will ein weniges aus dem Leben Benno Stehkragens erzählen, des kleinen Buchhalters, der über zwanzig Jahre tagsüber den Drehstuhl hinter dem zweiten Pult im Couponbureau der Industriebank zu Frankfurt am Main, Bahnhofsplatz drei, drückte. Es war ein ziemlich hoch geschraubter Drehstuhl, denn der ganze Benno Stehkragen maß kaum einen Meter zwölf, und wenn er auf seinem Platze thronte, so baumelten zwischen dem Pult zwei krumme Beinchen und bildeten eine Null. Über dem Pult schaute ein schwarzhaariges Wuschelköpfchen hervor, das dicht zwischen den Schultern saß, das aber ebenso flink drehbar war wie der Stuhl. Eine große Brille vorsintflutlichen Formats saß auf Bennos etwas aufgestülpter Nase, und die Brillenschienen endigten hinter großen, abstehenden Ohren, die die Fähigkeit besaßen zu wackeln, ohne daß die Stirne Falten zog. Durch die Brillengläser aber zwinkerten zwei braune, kluge Äuglein, stillvergnügt und voll gutmütiger Selbstironie.

Ich habe gesagt, der ganze Benno Stehkragen maß nur kaum einen Meter zwölf. Er wäre gewiß mindestens dreißig Zentimeter länger gewesen, hätte es ein Mittel gegeben, den Buckel, der seinen Rücken verunstaltete, auszubügeln.

Aber dieser Buckel saß ebenso pflichtgetreu auf Bennos Rücken wie Benno selbst auf seinem Drehstuhl. Und der einzige Unterschied war, daß Benno des Abends mit dem Glockenschlag Sechs sich von seinem Drehstuhl trennte, um seinem Junggesellenzimmerchen jenseits des Maines zuzuwandeln, während der Buckel auf Bennos Kehrseite ununterbrochen Geschäftsstunde hielt und selbst die höchsten Feiertage ignorierte. Nur war er an diesen Feiertagen von einem säuberlich gebürsteten schwarzen Gehrock umhüllt, indes er Werktags hinter einem nicht immer ganz sauberen braunen, karierten Rock kauerte. Das Alter dieses Rockes zu bestimmen, sei Geschichtsforschern überlassen. Wir wollen uns mehr mit dem Innern als dem wenig verlockenden Äußern Benno Stehkragens befassen.

Wir wissen, daß auch Napoleon der Erste ein klein gewachsenes Menschlein war, das überdies an Epilepsie litt, und daß es dennoch auf seiner kurzen Lebensreise von Korsika bis Sankt Helena ganz Europa umstülpte. Es wäre also durchaus glaubhaft, würde ich auch von unserem kleinen Mann die verblüffendsten Heldentaten erzählen. Allein die Wahrheitsliebe hindert mich daran. Keinen Roman mit glühenden Liebesabenteuern, voll von wundersamen Begebenheiten, sollt Ihr vernehmen. Nur kleine Episoden kann ich Euch vermelden. Episoden von einem Menschen, dessen ganzes Leben nur eine Episode war. Dessen Erscheinen in dieser Welt keine Lücke ausfüllte, und dessen Scheiden keine Lücke hinterließ.

»Die Naturgeschichte wollt’ einen Witz machen, und da erschuf sie mich,« sagte Benno von sich selbst. Und wehmütig fügte er hinzu: »Ich hätt’ der Naturgeschichte bessere Witze zugetraut!«

Wann und wo hätte auch Benno Heldentaten vollbringen sollen?

Auf seinem Drehstuhl.

Mein Gott, drehte er ihn nach rechts, so sah er die beiden Schalterfenster, die zum Gang hinausführten, und hinter jedem Schalterfenster saß ein Beamter, rechnend, schreibend gleich ihm oder im Flüstertone die Kundschaft abfertigend. Drehte er den Stuhl nach links, so sah er eine Reihe Fensterscheiben, hinter denen melancholisch ein dunkler Hof brütete.

Die Fensterwand entlang standen Pulte, und hinter jedem Pult hockte ein Beamter oder eine Beamtin, mechanisch arbeitend. Am Ende der Wand, ein wenig erhöht, residierte Herr Wittmann, der Bureauchef, ein noch jugendlicher Herr, der Typ eines zielbewußten Strebers, schneidig und grob.

»Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand dazu,« hatte Benno einmal mit Bezug auf Herrn Wittmann zitiert. »Manchmal gibt er ihm auch nur das Mundwerk dazu. Aber er hat eine Zukunft, der Herr Wittmann. In zehn Jahren ist er Prokurist. Die unleserliche Handschrift hat er jetzt schon. Nun ja: ein schwarzer Zylinder, ein schwarzer Frack und ein schwarzes Herz, damit kann man’s weit bringen auf der Welt!«

Es kam öfters zu Zusammenstößen zwischen Benno und dem Bureauchef.

»Herr Stehkragen!« schnarrte dann plötzlich eine scharfe Stimme, »Herr Stehkragen, kommen Sie mal her!«

Und alle Köpfe blickten von den Schreibarbeiten auf und drehten sich nach Benno und wußten: Jetzt gibt’s wieder ein Donnerwetter.

Nur Benno selbst schien nichts Schlimmes zu argwöhnen, kletterte gemächlich von seinem Drehstuhl, dachte sich: Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden, und watschelte zu dem Allgewaltigen.

»Herr Wittmann?« frug er freundlich und mit einer Harmlosigkeit, die selbst einen General bei einer Besichtigung entwaffnet hätte, »Herr Wittmann, ich glaub’, Sie haben gerufen?«

»Und ich glaub’, Sie haben schon wieder mal an alles mögliche gedacht, nur nicht an Ihre Arbeit!« fuhr ihn Wittmann an. Und indem er ihm eine Faktura unter die Nase hielt, schrie er: »Haben Sie das geschrieben?«

»Wenn Se das Blatt so hoch halten, kann ich nix gucken!« entgegnete Benno seelenruhig, nahm die Faktura, rückte die vorsintflutliche Brille zurecht und prüfte langsam das Schriftstück.

»Ich frage Sie, ob Sie das geschrieben haben?« herrschte ihn der Bureauchef ungeduldig an.

»Meine Handschrift is es!« erklärte Benno, und es zuckte um seine Mundwinkel wie amüsiertes Lächeln.

»So! Also Ihre Handschrift ist es! Und Ihre Nachlässigkeit und Schlamperei ist es auch! Aber das geht nicht so weiter mit Ihnen! Ich hab’s satt! Satt hab’ ich’s!«

Gut, dachte sich Benno. Er hat’s satt. Mahlzeit!

»Genug hab’ ich von Ihnen! Noch heute spreche ich mit der Direktion. Beim nächsten Fehler werden Sie entlassen! Das gebe ich Ihnen schriftlich!«

Ich glaub’s auch mündlich, dachte sich Benno.

Und weiter dachte er sich: Weshalb schimpft er eigentlich so? Nun ja, er is die Primadonna von dem Couponbureau. Er muß seine Stimm’ üben. Und immer schreit er dasselbe. Er hat’n Grammophon verschluckt. Hinauswerfen? Mich? Schön! Fall’ ich auf die Füß’, so tut mir’s nicht weh; und fall’ ich auf den Buckel, so feder’ ich wie e Sprungfedermatratz’. Mein Gott, die Welt is groß, und überall in der Welt gibt’s Drehstühl’. Und auf jedem Drehstuhl braucht merr eine menschliche Maschin’, die ihr Leben um hundertachtzig Mark den Monat verkauft. Schön! Weshalb schmeißt er nicht?

Das alles dachte Benno nur. Das Reden war seine schwache Seite, und so flink er denken konnte, so schwerfällig sprach er.

Gerade weil er so behende dachte, so intensiv schlagfertig war, stolperte er beim Sprechen über seine eigenen Gedanken. Er war mißtrauisch gegen alle Menschen, die perfekt reden konnten, und wenn er beispielsweise einen Parlamentsbericht las, sagte er sich: Ein hochinteressanter männlicher Kaffeeklatsch. Gute Reden, schlechte Gesetze. Wie man nur so spaltenlange Überzeugungen haben kann! Ein Glück, daß der liebe Gott kein Abgeordneter is: er wär heut’ noch nicht mit den zehn Geboten fertig! Und der arme Moses hätt’ für die Gesetzestafeln ein ganzes Armeekorps Steinträger gebraucht!

Während Benno Stehkragen dachte, schimpfte Herr Wittmann weiter.

Benno wartete geduldig, bis ihm der Atem ausging, nickte zustimmend mit dem Kopf, watschelte an sein Pult zurück, tunkte seine Feder ein und schrieb weiter, als sei nichts geschehen.

»Fräulein Antonie Hochberg, hier. 5 °Coupons 3 % Preußische Staatsanleihe per 1. Oktober à M. 15.– macht M. 750.–, 2 °Coupons per 15. November …«

Und zwischendurch dachte er: Das Fräulein Hochberg hat Geld. Alles im Schweiße ihres Angesichts geerbt. Dafür wohnt se auf der Bockenheimer Landstraß’ und hat zwei Diener und eine Zofe, die ihr das falsche Haar frisiert, und spritzt sich mit Parfüm ein, daß merr’s Geld nicht so riecht. Und se is dick wie ein Eichbaum und setzt auch jedes Jahr ’n neuen Ring an, und hat ’n Logenplatz im Opernhaus, und der arme Richard Strauß muß ihr jede neue Oper von sich vorspielen lassen und kann sich nicht wehren. Und se hat ein Perlenhalsband, das ausguckt, als wär’s von Taubeneiern, und es tut ihr leid, daß es kein Hundehalsband is, weil dann die Steuermarke dran baumelte. Und Ohren hat se und ein Gehirn hat se auch, – aber die Ohren sind mehr wert, weil da Boutons drin sind. Und se zählt zu den Spitzen der Gesellschaft, die so spitzig sind, daß ich lieber nicht damit in Berührung komm’. – Ob se mich wohl hinausschmeißen werden?

Aber sie warfen ihn nicht hinaus. Denn die Direktion wußte, daß sie an Benno Stehkragen einen pflichtgetreuen Beamten besaß, der pünktlich und gewissenhaft funktionierte und zum Hause gehörte wie die Ventilation oder die Wasserleitung.

Sie wußte, daß er in den langen, langen Jahren seiner Anstellung niemals selbsttätig Gehaltsaufbesserung verlangt hatte, daß er zu den Beamten zählte, die, wenn ihnen der Arzt vierzehn Tage Schonung verordnet hat, bereits am siebenten Tage wieder im Bureau erscheinen – aus purer Angst, es könnte etwa in ihrer Abwesenheit das Tintenfaß an einen anderen Platz gestellt werden oder zu den Mitteilungen an Fräulein Antonie Hochberg ein großer Briefbogen statt des kleinen Memorandums verwandt werden oder die Welt durch ein ähnliches Unglück aus dem Gleichgewicht kommen.

Wer Benno deshalb für kleinlich gehalten hätte, hätte ihm unrecht getan.

Benno war einfach einer jener Pflichtmenschen der alten Schule, die ihrem Chef jedes Endchen Bindfaden sammeln und einen verlegten Bleistift lieber aus der eigenen Tasche ersetzen, ehe sie einen neuen fordern. Pflichtmenschen, die das ganze Jahr über auf die Firma schimpfen, und für die die Firma doch eine Art Heiligtum ist, ohne das sie nicht leben können, und für das sie Jugend und Arbeitskraft dahingeben.

Eigentlich gab es ja überhaupt zwei Benno Stehkragen.

Der äußerliche, körperliche Benno trug einen schäbigen, braunen, karierten Rock – der innere Benno, die Seele Bennos, trug das herrlichste Gewand, das es gibt: sie ging splitternackt.

Der körperliche Benno war ein buckliges, übertragenes Brillenmännchen – die Seele Bennos war ein Kind, ein harmloses Kind, das sich über Dinge wundern konnte, die jedem Erwachsenen selbstverständlich erschienen, und andererseits Dinge begriff, für die die Erwachsenen längst das Begriffsvermögen im Lebensgedränge verloren haben; ein Kind, das lieben konnte, grenzenlos, unenttäuscht, wie es nur Kindern gegeben ist.

Nein, Heldentaten vollbrachte Benno Stehkragen nicht.

Sein Dasein spielte sich in gar engen Grenzen ab, und wenn er an den billigen Volkstagen den Zoologischen Garten besuchte, dachte er sich jedesmal: Is nicht das ganze Leben ein Zoologischer Garten? Die Löwen sind eingesperrt, und die Flöh’ hüpfen frei ’erum.

Und sah er bei der Fütterung der Tiere zu, so lächelte er: Eben kriegen se ihren Gehalt!

Und er sann weiter: Das Couponbureau ist mein Käfig. Und der Wittmann is mein Wärter. Wenn ich nur emal das Schildchen an dem Käfig gucken könnt’, wie ich auf lateinisch heiß’, und ob ich eigentlich ’n Löwe bin oder ’n Aff’?

Klein, klein war Bennos Käfig.

Aber Benno besaß den Schlüssel zu einem Luftschloß, schöner als alle Paläste dieser Welt, zu einem Schloß, in dessen unermeßlichen Gärten die Blumen das ganze Jahr blühen, und dieser Schlüssel war das goldene Wörtchen: Wenn.

Wenn ich der Kaiser von China wär’, dachte Benno Stehkragen und malte sich aus, was er alsdann tun würde. Es gibt weder in der Geschichte Chinas noch in der Geschichte eines anderen Volkes so übermenschliche Heldentaten, wie sie Benno der Erste, Kaiser von China, vollbrachte. Sein Volk verhimmelte ihn, und als er starb, gab es in ganz China kein trockenes Taschentuch. Zehntausend Jungfrauen, gekleidet in weiße Seide, den Meter zu zehn Mark fünfzig, folgten seinem Leichenzug, und sein Leibelefant legte sich auf sein Grab und nahm keine Nahrung mehr, bis er verendete. Und der Oberpriester des Konfutse hielt eine Leichenrede, eine Leichenrede – geplatzt wär’ der Wittmann, wenn er sie gehört hätt’!

Oder er dachte: Wenn ich jetzt einen Onkel in Amerika hätt’ – und er wär’ neunzig Jahre alt – und er hätt’ sich zehn Milliarden Dollars Erspartes von seinem Gehalt zurückgelegt – und es tät’ ihn der Schlag treffen – und ich wär’ sein Universalerbe – dann …

Und Benno baute von den ersparten zehn Milliarden Dollars ein Luftschloß, geräumiger als sämtliche Wolkenkratzer Neuyorks und Chikagos.

Und in allen Räumlichkeiten wohnten glückliche, zufriedene Menschen, und der Liftboy hätte mit keinem Vanderbilt getauscht.

Denn dies war das Übereinstimmende an fast allen Phantasien Bennos: sie liefen darauf hinaus, die Menschen glücklich zu machen. Sie begannen schier alle mit dem kleinen Bächlein Benno und mündeten in das große Meer Menschheit.

Er schwelgte in einer Utopie von Menschheitsbeglückung.

Aber das goldene Schlüsselchen »Wenn« öffnete ihm nicht nur die Portale der Zukunft, es erschloß ihm auch die Pforten der Vergangenheit.

Und er träumte: Wenn ich jetzt der Bürgermeister von Gomorrha wär’ – und es fing’ an, Schwefel zu regnen – und Pech zu schneien – und Phosphor zu hageln – und ich hätt’ keinen Regenschirm bei mir – und die Feuerwehrspritz’ wär’ gerad’ kaputt – dann …

Oder: Wenn ich jetzt der Columbus wär’ – und ich wär auf’m Meer mit mei’m Dampfschiff fehlgegangen – und ich käm’ plötzlich an ein Festland – und da tät’ ein Wegweiser stehen mit der Aufschrift »Amerika« – und es tät’ der Häuptling aus’m Kaktusstrauch hervorbrechen – und tät’ sagen, auf indianerisch: »Schlecht sehen Se aus, Herr Columbus« – dann …

Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft umfaßten Bennos Träume.

Im ganzen schönen Frankfurter Palmengarten wachsen keine so herrliche Blumen, wie sie unter Bennos Wuschelhaar gediehen, und im Musikpavillon bringt selbst der treffliche Kapellmeister Kämpfert keine so köstlichen Harmonien hervor, wie sie in Bennos Gedankengängen sproßten.

Denn in diesen Träumen sangen die Engel, bliesen die pausbäckigen Posaunenchöre des Himmels, und in der Mitte stand Benno Stehkragen als Musikdirektor, mit einem großen Tintenbleistift als Dirigentenstab, und nur von Zeit zu Zeit klopfte er ab: »’n Augenblick! Bitte, ’n Augenblick! Ich muß nur mein’ Taktstock neu spitzen!«

I>ch habe geschildert was Benno Stehkragen erblickte wenn er von seinem Drehstuhl nach rechts, nach links schaute. Aber der Mensch schaut nicht nur seitwärts, er sieht auch geradeaus, und besonders Benno liebte es, geradeaus zu blicken. Im Leben allgemein, und von seinem Drehstuhl im besonderen. Denn ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Pultes saß etwas recht Sehenswertes: das blondköpfige Fräulein Böhle.

Vor zwei Jahren etwa war Fräulein Böhle in die Industriebank eingetreten, direkt von der Handelsschule. Sie hatte sich in der Direktion mit einem schmeichelhaften Empfehlungsschreiben, ausgestellt von einem auswärtigen Geschäftsfreunde des Hauses, eingefunden. Aber ein besseres Empfehlungsschreiben war ihr frisches Wesen, ihre lebhafte Schlankheit, ihre vergnügte Sicherheit in Worten und Auftreten.

Das hübsche Mädchen redete mit dem gestrengen Direktor Hermann in einer drolligen Natürlichkeit und Ungezwungenheit, als spräche sie mit einem Gleichgestellten, und nicht mit dem Mann, bei dessen Erscheinen in den Bureaus auf allen Gesichtern eine Art Leichenstarre eintrat.

Und gerade diese Tapferkeit hatte dem Direktor gefallen.

»Sie haben zwar noch nicht praktisch in einem Geschäft gearbeitet, sondern nur die Handelsschule besucht, auf die ich nicht viel Wert lege, aber wir könnten’s ja mal probieren. Meinen Sie nicht, Kollege Birron?«

Und der zitterige Direktor Birron, der stets meinte, was Hermann meinte, nickte mit dem Glatzkopf und sagte: »Schon recht.«

Er wußte gar nicht, um was es sich handelte.

»Wieviel Salär beanspruchen Sie?« frug Direktor Hermann das Fräulein, das inzwischen die Zimmereinrichtung neugierig betrachtet hatte.

Fräulein Böhle war auf diese Frage nicht gefaßt gewesen, sie hatte überhaupt nicht geglaubt, so schnell angestellt zu werden.

Aber sie hatte fix überlegt: »Achtzig Mark, Herr Direktor!«

Hermann lächelte. »Sie schätzen sich sehr hoch ein, Fräulein! Ich meine, sechzig Mark genügten für den Anfang. Denken Sie nicht auch, Kollege Birron?«

Direktor Birron, der gerade angefangen hatte, Briefe zu unterschreiben, hob zerstreut den Kopf und murmelte: »Was stören Se mich fortwährend? Es wird schon recht sein!«

»Nun, Fräulein?« frug Hermann.

Martha Böhle zuckte schnippisch die Achseln. »Für siebzig Mark bleibe ich.«

Direktor Hermann lachte amüsiert. »Wenn ich Sie Ihrem Mundwerk nach bezahlen müßte, wären Sie unbezahlbar. Also meinetwegen siebzig. Und wann können Sie eintreten?«

»Sofort,« antwortete Martha schnell.

»Also nächsten Montag!« verbesserte der Direktor sie. Und plötzlich wieder streng geschäftlich werdend, sagte er kühl: »Sie werden den Kontrakt schriftlich erhalten. Geben Sie Ihre Adresse unten in der Korrespondenz an! Zimmer neunzehn! Daß Damen nicht in die Pensionsanstalt der Bank aufgenommen werden, dürfte Ihnen bekannt sein. Melden Sie sich Montag früh acht Uhr im Wechselbureau!«

Damit war sie entlassen.

»Adjö, Herr Direktor,« sagte sie. Und zu Direktor Birron gewendet, nochmals: »Adjö!«

Birron murmelte, ohne von seiner Beschäftigung aufzublicken: »Es wird schon recht sein, Herr Kollege! Meinetwegen!«

Als Martha die Treppe hinunterging, begegnete ihr Wittmann. Er wollte gerade ins Effektenbureau hinüber. Man hatte ihm von dort einen verkehrten Coupon geschickt, da gab es etwas zu schimpfen, und das besorgte er gern selbst.

»Bitte sehr,« sagte er galant, nachdem er beim Anblick Marthas die Weste selbstgefällig zurechtgezupft hatte, und schmiegte sich schmal an die Wand, um sie bequemer vorbeigehen zu lassen.

Sie nickte ihm flüchtig Dank und ging weiter.

»Donnerkiel!« schmunzelte Wittmann, ihr nachblickend. »Die Figur is nicht von schlechten Eltern! Wer mag denn das gewesen sein?«

Er eilte nach dem Effektenbureau, blieb aber unterwegs stehen, machte kehrt und lief nach der Portierloge.

»Sie, Binder,« frug er den Portier, »was war denn das für eine, die da eben ’raus ging? Die Blonde, Schlanke?«

Der Portier legte die Zeitung weg und erwiderte uninteressiert: »Ich waaß net! Beim Alte war se! Drowwe in der Direxio’!«

Wittmann grinste. »Direktor Hermann hat kein schlechtes Geschmäckchen!«

Er blickte den Portier, weitere Auskunft erwartend, an. Allein der alte Binder hatte keine Lust zu zweideutigen Gesprächen.

Überdies konnte er Wittmann nicht leiden, über dessen herrisches Auftreten er manches Unliebsame gehört hatte. Von seinem Sohn, der im Kontokorrent beschäftigt war. Er begnügte sich daher, mißbilligend zu bemerken: »Herr Wittmann, Se könne aach net alles verantworte, was Se de Dag iwwer zesammeschwätze!«

Und da gerade das Haustelephon klingelte, wandte er sich der Umschalttafel mit den Dutzenden von Stechkontakten zu, um die gewünschte Verbindung herzustellen.

Am Montag früh stellte sich Martha pünktlich in der Industriebank ein.

Sie trug ein einfaches Kleid, schwarzen Rock, helle, schmucklose Bluse. Ihr reiches blondes Haar lag, in Zöpfe gebändigt, wie ein großes goldenes Schneckenhaus auf dem Hinterkopf, bildete vorne einen koketten Scheitel, aus dem eine vorwitzige Locke über die Stirne schaute, als suche sie »ehrbare Annäherung« an die lustigen Augen.

»Guten Morgen,« begrüßte sie den Portier.

»Gu’n Morsche!« sagte Binder. »Sein Sie des neue Fräulein?«

»Tjawoll! Martha Böhle!«

»War’n Se schon in annerne Geschäfter, odder is des Ihr erste Schdell?« ließ sich Binder in ein Gespräch ein. Und das war eine große Gunstbezeigung.

»Das ist mein Debüt,« antwortete Martha amüsiert.

»No, da sin Se ja gleich in de richtige Affe’stall komme! Se wer’n Aage mache! Also gehn Se enuff in de erste Stock, Zimmer dreiunzwanzig! Un viel Glück!«

Binder hatte schon eine große Arbeit hinter sich: das Sortieren der eingetroffenen Post. Natürlich durfte er die Briefe nicht öffnen, aber er hatte die Privatbriefe an das Personal herauszusuchen, die er dann den Empfängern beim Passieren der Portierloge überreichte.

Es gab da Privatbriefe jeden Formats, auch parfümierte kleine Briefchen, deren Inhalt leicht erratbar war, Ansichtskarten mit verliebten Bildern und – wie sich Binder beim Lesen überzeugte – ebenso verliebten Mitteilungen, Kuverts mit Firmenaufdruck, die auf unbezahlte Rechnungen schließen ließen – o, Binder war eine Art Vertrauensperson für alle Angestellten. Mancher kleine Roman hatte sich vor seinen Augen abgespielt, manche Katastrophe hatte er ahnend miterlebt.

Da war zum Beispiel der »schöne Adolf« vom zweiten Kassenschalter gewesen, der eine Zeitlang jeden Morgen ein blaues und ein rotes Brieflein – »mit ere Kron’ druff« – bekommen hatte. Bis eines Tags die roten Brieflein ausblieben und sich statt dessen in längeren Zwischenpausen Kuverts mit dem Aufdruck »Kgl. Amtsgericht« einstellten. Damals hatte der »schöne Adolf« den alten Binder instruiert: »Wenn mich eine Dame am Telephon verlangt, sagen Sie, ich bin in Urlaub.« Und dann war eine dicke, keineswegs hübsche Madam’ in der Industriebank erschienen und hatte in der Schalterhalle einen derartigen Lärm geschlagen, daß das ganze Haus alarmiert wurde. Und der »schöne Adolf« wurde in die Direktion gerufen und ging nun wirklich in Urlaub, aber gleich für immer.

Der alte Binder, der seine Portierloge durch das Haustelephon mit dem Privatzimmer der Direktoren verbunden hatte, hatte deutlich den Direktor Hermann sagen hören: »Nur aus Rücksicht auf Ihre arme Frau und Ihre bedauernswerten Kinder sehen wir von einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft ab!«

Eine Viertelstunde später war der »schöne Adolf« an der Portierloge vorbeigekommen, sorglos sein Spazierstöckchen schwingend, und hatte gerufen: »Adiö, Binder! Ich hab’ gekündigt!«

Und der alte, erfahrene Torhüter hatte gedacht: So e Lump! So e ganz gemei’ Dreckviech! Pfui Deiwel!

Aber als ihn am nächsten Tag die neugierigen Beamten frugen, was denn eigentlich mit dem »schönen Adolf« sei, und was das für eine geräuschvolle Dame gewesen sei, antwortete er nur: »Waaß ich’s? Gekindigt hat er halt!«

Martha ging in das Wechselbureau und stellte sich dem Bureauchef Rittershaus vor. Das war ein verrunzelter, knöcherner Zahlenmensch, der sich langsam auf diesen Posten emporgearbeitet hatte, und dem im Laufe der Dienstjahre das bißchen Verstand und Daseinsinteresse eingetrocknet waren.

Die eigentliche Herrschaft im Wechselbureau führte denn auch nicht er, sondern der dicke Rehle, der Inhaber des Schalterplatzes. Ein gemütlicher Epikureer, beliebt im ganzen Hause ob seiner ewig guten Laune.

Drei Leidenschaften besaß Rehle: gut essen, gut trinken und gut schnupfen. Und wegen dieser dritten Leidenschaft führte er seit nun bald dreißig Jahren mit seiner lieben Alten, die die verschnupften Taschentücher waschen mußte, einen humorreichen häuslichen Krieg.

Gnädig und kalauergesegnet führte Rehle sein Zepter, ein kleiner Schlaraffenkönig. Mit den Damen des Hauses stand er auf einem gemütlichen Papafuß und durfte sich manchen Scherz erlauben, den sie sich von anderer Seite ernstlich verbeten hätten. Nur wenn er, unbekümmert um die anwesende Weiblichkeit, gar zu derbfrankfurterische Stammtischwitze zum besten gab, entstand ein kleiner Aufruhr, so daß sich der Bureauchef Rittershaus auf seine Amtswürde besann und in den Raum krähte:

»Ruhe!! Während der Arbeit darf nicht geschwätzt werden!«

Worauf Rehle regelmäßig mit lauter Stimme zu rezitieren anhub: »Und es entstand eine große Stille im ganzen Lande, und jegliches Volk lauschte den Worten des erhabenen Königs!«

Dann warf ihm Rittershaus einen bösartigen Blick zu. Aber er sagte nichts, denn Rehle hatte ebensoviele Dienstjahre auf dem Rücken wie er selbst und war »oben« gut angeschrieben.

Natürlich wußte der dicke Rehle ebensogut wie der alte Binder, daß ein neues Fräulein engagiert war, und er wußte auch bereits, daß sie eine appetitliche Blondine sei.

Aber so hübsch hatte er sie sich nicht vorgestellt.

Er bemerkte daher bei Marthas Eintritt beifällig: »Da hawwe se endlich emal in der Direxio’ en gescheite Gedanke gehabbt, daß se so ebbes Hibsches angaschiert hawwe!«

»Oho!« protestierten die anderen Beamtinnen, »sind wir vielleicht nicht hübsch?«

»Ruhe im Schdaate Dennemark,« begütigte Rehle die Wortführerin. »Du waaßt doch, ich habb’ derr ewige Treu geschworn, von morjens Acht bis abends Sechse mit zwei Schdund Mittagspaus’!«

Er duzte grundsätzlich jedermann.

Martha wunderte sich keineswegs über den Ton, der im Wechselbureau herrschte. Sie fand sich mit ihrem unbefangenen Sanguinismus in alle Lebensverhältnisse, griff überall gleich den rechten Ton.

Wo hatte das junge Mädel nur diese Gewandtheit, diese instinktive Menschenkenntnis her?

Nachdem sie ihren näheren Arbeitsgenossen vorgestellt worden war, begann unter der Führung Rittershausens ein Rundgang durch sämtliche Bureaus, bis dicht unter das Dach, wo die Buchhalter der Revisionsabteilung saßen, deren Arbeitszimmer mehr einer Frühstücksstube glich als einem Bureau. Denn dort oben hinauf verirrte sich selten ein Aufsichtsorgan.

Hunderte von Namen glitten an Marthas Ohr vorüber, hundert Male nickte sie freundlich mit dem Kopf oder gab ein paar gleichgültige Antworten auf gleichgültige Fragen.

Und immerfort krähte Rittershausens monotone Stimme:

»Fräulein Böhle, unsere neue Kollegin – Herr Soundso! Fräulein Böhle, unsere neue Kollegin – Fräulein Soundso!..«

In etlichen Bureaus wurden von den Herren renommierend die Sonntagserlebnisse erzählt, in anderen gab es schon am frühen Morgen Streit um nichtige Angelegenheiten. In jenen Räumen, die unmittelbar mit dem Posteinlauf zu tun hatten, herrschte schon rege Betriebsamkeit.

»Fräulein Böhle, unsere neue Kollegin – Herr Soundso!« Herrgott, nahm das denn gar kein Ende! Von Tür zu Tür ging es, treppauf, treppab. Auf den Stufen gingen zuweilen Beamtinnen an ihnen vorüber, die Briefe oder Notizzettel in andere Bureaus trugen. Es war eine stillschweigende Übereinkunft zwischen dem männlichen Personal, daß alle untergeordneten Arbeiten, die in anderen Betrieben von den Lehrlingen verrichtet zu werden pflegen, den Damen aufgehalst wurden.

Da Martha hübsch und offenen Blickes war, schwirrten bald galante, bald neidisch-hämische Glossen hinter ihr her.

»Alle Hochachtung, ’n niedliches Tierchen!«

»Scheint auch mehr Prinzessin als Arbeitskraft zu sein!«

»Fesch, tipp-topper Kerl!«

»Für ’ne Neue dürfte sie sich schon ein bißchen weniger selbstbewußt aufführen!«

»Fräulein Böhle, unsere neue Kollegin – Herr Wittmann!«

Wittmann machte eine leichte Verbeugung. »Wir haben uns schon vorige Woche auf der Galatreppe gesehen, wenn ich nicht irre? Ich hielt Sie allerdings damals für ’ne Gräfin oder so was! Weil Sie so würdevoll an mir vorbeirauschten! Na, auf gute Kollegenschaft!«

Es sollte kameradschaftlich klingen, aber Martha hörte die unleugbare Arroganz heraus und ergriff nur zögernd die dargebotene Hand.

»Schade, daß Sie nicht in meinem Bureau sind!« flüsterte Wittmann dabei.

Und weiter ging’s, von Pult zu Pult.

»Fräulein Böhle, unsere neue Kollegin – Herr Benno Stehkragen!«

Martha lächelte, und Benno fühlte, daß dieses Lächeln seinem kuriosen Namen galt.

»Ich heiße Stehkragen,« sagte Benno, »und ich bin e Stehkragen. Ein Stehkragen, der in dieser schmutzigen Welt manchen Dreckfleck bekommen hat. Aber wenn ich emal tot bin – und ich komm in den Himmel – zu den Engeln und dem anderen Geflügel – dann wird der Stehkragen gewaschen, in purem Wolkenwasser – und geplättet und gestärkt – und vielleicht setzt der liebe Gott mich als Sternbild an den Himmel – und die Astronomen melden: Ein neues Sternbild entdeckt – in Form eines Stehkragens! Aber irgendwo is doch e winziges Schmutzfleckchen stehengeblieben – vielleicht taugt die himmlische Soda gradsowenig wie die irdische – und e junger Gelehrter guckt das Fleckchen durch sein Fernrohr – und hält’s für en Kanal oder ’n erloschenen Krater – und schreibt en Buch drüber – und wird dafür Professor der Astronomie! Und so is der bucklige Benno Stehkragen doch zu ebbes gut gewesen auf der Welt!«

Er schwieg.

So eine lange Rede hatte der schweigsame Benno Stehkragen noch nie gehalten.

Die Kollegen schauten verwundert auf, Wittmann grinste geringschätzig, und Martha blickte den sonderbaren Sprecher groß an.

»Ich habe keineswegs über Ihren Namen gelächelt,« sprach sie und log gutmütig, »wirklich nicht!«

Aber Benno hatte sich schon wieder über seine Arbeit gebeugt und hörte gar nicht mehr hin. Er bereute auch schon, so viel gesprochen zu haben. Unerklärliches hatte ihn dazu gezwungen. Er wollte in den Augen dieses Mädchens nicht lächerlich erscheinen und hatte nun das bittere Gefühl, sich doppelt lächerlich gemacht zu haben.

Sicherlich hat se kein Wort von dem verstanden, was ich ausdrücken wollt’, dachte er.

Aber eine heimliche Stimme sagte ihm: Se hat’s doch verstanden. Sie is so schön und se muß ein gutes Gemüt haben!

Nachdem sie in das Wechselbureau zurückgekehrt waren, teilte Rittershaus Martha ihre Arbeit zu. Sie hatte die einlaufenden Wechsel in ein großes Buch einzutragen und mit dem Gummistempel »Industriebank« zu versehen, in dessen Mitte die laufende Nummer des Wechselbuchs zu schreiben war.

Dabei mußte sie prüfen, ob die Wechsel richtig ausgestellt waren, ob sie die vorgeschriebene Stempelmarke trugen, und ob die Girierungen stimmten.

Ferner hatte sie das Kopierbuch zu registrieren, die Kopien der am vorigen Tage abgegangenen Fakturen nachzurechnen.

»Zur Übung!« hatte Rittershaus gesagt.

»Damit de die Schlafkrankheit kriehst!« hatte der dicke Rehle sie belehrt.

Zwischendurch gab es kleine Gänge in die anderen Bureaus, Anfragen, Antworten, Schriftstücke zu holen und zu bringen.

Um elf Uhr verließ Rittershaus das Bureau, um an die Börse zu gehen, und das war das Zeichen, die Arbeit einzustellen und eine allgemeine Plauderstunde zu eröffnen, bei der der dicke Rehle das große Wort führte.

»No, was gibbt’s dann Neues, Scheckel?« wandte er sich an die zunächstsitzende Beamtin. »Wo hat er dich denn gestern awend hiegefiehrt? Is er brav gewese, odder hat er widder zu viel nach de annern Mädercher geguckt?«

Rehle hatte für jede Beamtin einen Spitznamen erfunden, dessen nur er sich bedienen durfte.

Da war die »Scheckel« (»so haaßt nemlich unser ahl’ Katz!«), da war das »Fräulein Hipperich«, das nach seiner Erläuterung »Quecksilwer im Leib hat, awwer ’s Wetter net aazeigt«, und die »Madamm’ Ungnädig«, eine kleine schwarze Hexe, die einmal dem guten Papa Rehle einen scherzhaft gemeinten, aber unvermutet kräftig ausgefallenen Backenstreich versetzt hatte, so daß sie selbst ganz erschrocken war.

Und bald hatte auch Martha ihren Spitznamen: die »Prinzessin von Kopierbuchshausen«.

Merkwürdig: Wittmann hatte sie Gräfin tituliert, Rehle erhob sie gar zur Prinzessin.

Und doch war es nur ihre lachende Jugend, die sie mit einem Glanz von Hoheit umgab und jeden für sie einnahm, der mit ihr sprach, vom gestrengen Direktor Hermann bis hinab zum alten unbestechlichen Binder und dem stets übersehenen Benno Stehkragen.

Nachmittags erwartete Martha die gleiche eintönige Arbeit. Erst als Rittershaus bemerkt hatte, daß sie eine flotte, gutleserliche Handschrift hatte, ließ er sie gelegentlich auch Fakturen schreiben. Aber das war nicht viel interessanter.

Martha war beliebt bei den Kollegen. Das hinderte jedoch keineswegs, daß sich alsbald der Bankklatsch mit ihrer Person und ihren Privatangelegenheiten beschäftigte.

Denn der Klatsch ist eine Giftpflanze, die in jedem Klima und auf jedem Boden gedeiht.

Man hatte herausgebracht, daß sie die Tochter solider Kleinkaufleute aus Hannover war.

Weshalb betätigte sie sich nicht im Geschäft ihrer Eltern? Weshalb ging sie unter fremde Leute, in eine fremde Stadt? Da mußte etwas dahinterstecken.

Und bald löste sich der Klatsch auf seine Art das Rätsel. Natürlich war es ein weibliches Gehirn, dem die Fabel entstammte, die allgemeinen Glauben fand: Martha hatte ein uneheliches Kind und sich deshalb mit ihrer Familie überworfen.

Bis diese Neuigkeit aus den Parterreräumlichkeiten hinauf in das Dachgeschoß gestiegen war, hatte sich die Fabel bereits zu einem Roman ausgewachsen: Das Kind, ein Junge, stammte von einem Grafen, und das dumme Ding hatte sich eingebildet, der Graf würde sie heiraten.

Andere wußten es wieder besser: Das Kind, ein Mädchen, stammte von einem Metzgermeister, aber der konnte sie nicht heiraten, denn er war bereits verheiratet und hatte vierzehn Kinder.

Schließlich behauptete sich siegreich die Wendung: Es waren überhaupt Zwillinge, und der eine war kurz nach der Geburt gestorben.

Die Vaterschaft wechselte, das Kind blieb.

Auch zu Benno Stehkragen war diese Verleumdung gedrungen. »Wisse Se ’s schonn: die Böhle hat e ledig Kind?«

»Von mir aus,« hatte Benno achselzuckend erwidert.

Und hatte sich heimlich gedacht: E Glück, daß ich kein Weib bin! Mir täten se e ganzes Säuglingsheim andichten!

Damit war die Angelegenheit äußerlich für ihn erledigt.

Innerlich freilich beschäftigte sie ihn noch lange. Wäre es möglich, daß ein so lachendes Geschöpf, dem der Frohsinn jauchzend von den Lippen sprang, so Schweres erlebt hätte?

Denn eine Entbindung, das mußte etwas ganz Schreckliches sein. Benno war wirklich froh, daß er kein Weib war.

Und von dem Geliebten verlassen werden – nein, sagte sich Benno, wem so was passiert, der kann sein ganzes Leben nicht mehr lachen.

Und gar aus der Familie ausgestoßen zu sein – das war für seinen in jüdischen Traditionen erzogenen Sinn der schrecklichste der Schrecken, ein Unglück, dem kein zweites glich.

Nein, nein, das alles war gemeiner Klatsch, Neid, Bosheit! Pfui über die schlechten Menschen!

Und doch: Es kamen im Leben so seltsame Sachen vor, Dinge, die man sich gar nicht erklären konnte, und die dennoch Wirklichkeit waren … Ach, wenn man ihm die dumme Geschichte doch gar nicht erzählt hätte!

Als Benno Stehkragen sich dermaßen den Wuschelkopf zerbrach, war Martha bereits nicht mehr im Wechselbureau beschäftigt.

Es war zwischen ihr und Rittershaus zu einem Krach gekommen. Rittershaus hatte sie, die er ihrer Lebhaftigkeit wegen nicht leiden konnte, angeschrien, Martha hatte ihm eine zwar zutreffende, aber reichlich kecke Antwort gegeben, und das Ende vom Lied war, daß Rittershaus, vor Wut an allen Gliedern zitternd, in die Direktion lief, um die Entlassung »dieser Person« zu verlangen.

»Des hast de gut gemacht!« ermunterte Rehle, indessen Martha die Tränen in den Augen standen. »Endlich hat er’s doch emol zu heern krieht, was er for e Dreckspatz is!«

Und zu den übrigen Beamtinnen gewandt: »Nemmt euch e Beispiel draa! Aach du, Madamm Ungnädig! Des is gescheiter, als ehrwerdige Familjevätter uff de Backe zu haage!«

Fünf Minuten später saß Rittershaus triumphierend wieder auf seinem Platz, und Martha wurde in die Direktion befohlen.

Direktor Hermann empfing sie sehr ungnädig.

»Wie können Sie sich unterstehen, einem alten verdienten Beamten eine solche Antwort zu geben! Sie sind wohl nicht recht bei Troste?«

Martha blickte ihm gerade ins Gesicht. Ihre Tränen waren versiegt. Sie war völlig mit sich im reinen und sagte mit ruhiger Stimme, mehr um den Fall aufzuklären als zu ihrer Verteidigung: »Er hat mich in einem Ton angeschrien, den ich nicht gewöhnt bin! So schreit man keine Dame an!«

»Wir haben hier keine Damen, sondern nur Beamtinnen!« erklärte Hermann schroff. »Merken Sie sich das gefälligst! Sie werden Herrn Rittershaus um Entschuldigung bitten.«

»Nein!« rief Martha lebhaft, »das werde ich nicht tun!«

Der Direktor zerbiß seinen Schnurrbart. Es war schwer zu entscheiden, geschah es, um seinen Ärger oder um eine aufkeimende Vergnügtheit zu verbergen? Er erhob sich jäh und kreuzte in langsamen Schritten das Zimmer.

»Wir pflegen Disziplinlosigkeit unbarmherzig mit Entlassung zu beantworten,« sprach er heftig. »Unbarmherzig! Verstehen Sie, Fräulein Böhle? Unter keinen Umständen lassen wir so was einreißen! Unter keinen Umständen!«

Er wandte sich nach Martha und schien eine Einwendung zu erwarten.

Martha stand mit trotzig aufgeworfenen Lippen da. Ihre Augen funkelten, aber sie antwortete nichts.

Hermann setzte seine Wanderung durch das Zimmer fort, blieb am Fenster stehen, schob die Gardine zurück, sah auf die Straße hinunter und sagte nach einer Weile, mehr zur Fensterscheibe als zu Martha: »Aber diesmal wollen wir in Anbetracht Ihrer Unerfahrenheit eine Ausnahme machen. Aber nur dieses eine Mal!«

Und plötzlich drehte er sich um, ging auf Martha zu und sprach mit beinahe väterlichem Wohlwollen: »Sie müssen sich nicht gleich so aufregen, Kindchen! Meinungsverschiedenheiten gibt es überall auf der Welt! Auch hier in der Bank! Ausgenommen natürlich in der Direktion!«

Dabei streifte sein Blick mit leisem Lächeln die Glatze des Direktors Birron, der in das Kursblatt vertieft dasaß und überhaupt keine Notiz davon genommen hatte, daß jemand in das Zimmer getreten war.

Als Martha immer noch nichts entgegnete, nahm er unvermittelt wieder seinen schneidenden Geschäftston an: »Sie werden von heute mittag ab im Couponbureau arbeiten! Melden Sie sich bei Herrn Wittmann! Und jetzt gehen Sie sofort nach Hause!«

Er setzte sich grußlos wieder an seinen Schreibtisch.

Doch als die Tür ins Schloß gefallen war, blickte er nochmals auf und schmunzelte: »Ein famoser Racker! Meinen Sie nicht auch, Kollege Birron?«

»Es wird schon recht sein!« brummelte es hinüber. »Ganz wie Sie wollen, Herr Kollege!«

Martha holte ihr Jackett und ging nach Hause.

»No?« frug der alte Binder. »No, Fräulein Böhle? So frieh schon haam? Hat’s was gewwe?«

Und nachdem er ohne Erregung Auskunft erhalten hatte, meinte er: »Des hätt’ ich Ihne im voraus sage könne! E Mädche wie Ihne läßt merr net so mir nix, dir nix fort! Also zum Wittmann komme Se? Schad’! Des dhut merr laad! Nemme Se Ihne in acht vor dem! Des is e Heimticker! Unner uns Parrersdöchter gesacht!«

»Na, sehen Se,« begrüßte Wittmann am Mittag Fräulein Böhle. »Na, sehen Se: Schöne Seelen finden sich zu Wasser und zu Lande! Die Götter haben mein Flehen erhört.«

Ganz wie damals, als Rittershaus vorgestellt hatte: »Fräulein Böhle, unsere neue Kollegin – Herr Wittmann,« machte er eine leichte Verbeugung und streckte ihr die Hand hin:

»Auf gute Kollegenschaft, Fräulein!«

Und diesmal ergriff Martha herzhaft die dargebotene Hand und lächelte:

»Auf gute Kollegenschaft!«

Sie hatte in der Zwischenzeit manches gelernt und fühlte aus dem Ton salopper Vertraulichkeit, den sich die meisten Beamten im Verkehr mit den weiblichen Angestellten erlaubten, kaum mehr die Ungezogenheit heraus.

Wittmann sah sich im Bureau um. »Wohin plazieren wir Sie denn? Dahinten, gegenüber von Herrn Stehkragen, is noch ’n Sitz frei. Also nehmen Se Platz, und schmücken Se unser Heim!«

Und so kam es, daß Benno Stehkragen, wenn er von seinem Drehstuhl nicht nach rechts, nicht nach links, sondern geradeaus schaute, das höchst sehenswerte Fräulein Böhle erblickte.

Und er guckte jetzt öfter von seiner Arbeit auf, als es sonst seine Gewohnheit gewesen war, und seine beweglichen dunklen Augen nahmen dabei einen ruhigen, beschaulichen Blick an.

Etwa so, als betrachte ein Kunstfreund aufmerksam ein seltenes Meisterwerk, das immer neue Wunder offenbarte.

Das erstemal am Tag schaute Benno Stehkragen des Morgens, wenige Minuten nach acht Uhr, empor, wenn Martha sich niedersetzte.

»Guten Morgen, Herr Stehkragen!« sagte sie dann, indem sie die Schreibärmel überstülpte.

»Guten Morgen, Fräulein Tulpe!« erwiderte Benno und erntete ein freundliches Lächeln.

Er begrüßte sie jeden Vormittag mit einem anderen Blumennamen, und ihm schien an jedem Tag, daß just der heute gewählte Name am besten für sie passe.

Das zweitemal hoben sich seine altmodischen Brillengläser gegen zehn Uhr, und dann sahen Bennos Augen zwei stattliche Schinkenbrote hinter Marthas kerngesunden Zähnen verschwinden.

Sein Blick frug ermunternd: »Schmeckt’s?«, und ein Gegenblick antwortete vergnügt: »Danke, ausgezeichnet!«

Und einmal phantasierte Benno vor sich hin: Wenn ich jetzt das Schwein wär’, von dem der Schinken abstammt – und ich wär’ gemästet – und ich tät’ drei Zentner wiegen, Gott behüt’ – und es käm’ der Metzger – und tät’ sagen: »Benno Schwein,« tät’ er sagen – »du mußt jetzt sterben! – Denn da ist ein reizender Gaumen – ein Gaumen von einer Königin – und die Königin muß notwendig zwei Schinkenbrote essen – sonst kann se kein Kopierbuch registrieren« – dann …

Er brach die Phantasie jäh ab, denn der Gedanke, ein Schwein, ein verbotenes, unreines Tier zu sein, war seinem strenggläubigen Gemüt doch zu schreckhaft.

Das drittemal guckte Benno Stehkragen geradeaus um dreiviertel zwölf Uhr.

Da fingen im Bureau die Vorbereitungen zur Mittagspause an. Die Federhalter wurden beiseite gelegt, Formulare in die Fächer eingeordnet, Schubladen, Schränke verschlossen, Hände gewaschen und gemächlich die Arbeitsjoppen mit den Straßenröcken vertauscht.

»Es is noch nicht Zwölf, meine Herrschaften!« rief Wittmann täglich gereizt.

Und erhielt täglich prompt die Antwort: »Ihne Ihr Uhr geht nach! Uff maaner is es schon drei Minute driwwer!«

Benno beobachtete, wie Martha die Schreibärmel herunterzog, sie glatt strich und in der Pultschublade verwahrte.

Von Samt und Seide sollten se sein, dachte er, und nicht von schundigem Leinen! – Und lauter rote Herzchen sollten drauf gestickt sein! – Und ganz oben das oberste Herzchen, wo die Sicherheitsnadel durchgeht, wenn se sich die Schreibärmel feststeckt – das wär’ dem Benno Stehkragen sein Herz – und tät’ jeden Morgen und jeden Nachmittag sagen: »Autsch, Se tun merr weh, Fräulein Reseda!« – Und es tät’ ein kleiner Blutstropfen herausquellen und den Schreibärmel hinunterlaufen – wo jetzt die schwarzen Tintenklexe hinunterlaufen – bis zuletzt der ganze Schreibärmel rot wär’! – Und dann tät’ se ihn wegwerfen und dem buckligen Benno Stehkragen sein Herz dazu …

»Mahlzeit, Herr Stehkragen!« sagte Martha und wandte sich zum Gehen.

»Mahlzeit!« sagte Benno und machte sich langsam fertig.

Am Portal der Bank aber holte er sie wieder ein und lief neben ihr her, die Kaiserstraße hinunter, vom Bahnhofsplatz bis zum Uhrtürmchen, ohne ein Wort zu sprechen.

Wie ein Hündchen lief er neben ihr her. Und seine Gedanken liefen dabei die konfusesten Pfade, die alle von dem Wegweiser »Wenn« abzweigten.

Diese Begleitung war Martha etwas lästig.

Aber sie wollte den spaßhaften Bureaugenossen nicht kränken, und so ließ sie ihn gewähren. Bis zum Uhrtürmchen. Dort nickte sie ihm zu, sagte »Adjö!« und stieg in die Elektrische.

Benno bog in die Promenade ein, ging durch die Große Gallusgasse, über den Roßmarkt, nach dem koscheren Restaurant, in dem er seit Jahren zu Mittag speiste.

Und Marthas »Adjö« begleitete ihn auf seinem Weg und leuchtete ihm voraus wie der Stern den heiligen drei Königen.

Dieses »Adjö« schwamm als Markklößchen in der Suppe, kicherte ihn an aus den Preißelbeeren und lachte ihm als Rosine aus dem Schalet entgegen.

Und die kleinen Bläschen, die im Selterswasser aufstiegen, das waren lauter kleine, goldhelle »Adjös«, und die Serviette, mit der er sich zum Schluß den Mund abwischte, das war einer von ihren Schreibärmeln, und der Mundwischer war ein scheuer, andächtiger Kuß.

Benno Stehkragen erwachte erst erschrocken aus seinen Träumen, wenn der Oberkellner, der stoppelbärtige Josef, der ebenso zum Inventar des koscheren Restaurants gehörte wie Benno zum Inventar der Industriebank, unaufgefordert an seinen Tisch trat und diskret frug: »Hawwe Se net gerufe, Herr Stehkrage’? Unn ich wollt’ Ihne aach sage, Ihne Ihr Abonnementskaart is abgelaafe! Ich habb’ Ihne gleich e neu’ ausgestellt!«

Er überreichte auch sofort die neue Abonnementskarte, indem er dabei mit der Serviette wedelte wie eine fliegengeplagte Kuh mit dem Schwanz und wußte: Jetzt gab es eine Mark Trinkgeld.

Das war die seit vielen Jahren zwischen ihm und diesem Stammgast übliche Taxe, die als Trinkgeld ausreichte für die zwölf Mahlzeiten, über die die Karte lautete.

Hätte ihm Benno einmal versehentlich nur neunzig Pfennig gegeben, so würde der stoppelbärtige Josef mit ruhigem Gewissen gesagt haben: »Se hawwe Ihne geerrt, Herr Stehkrage’!«

Und hätte ihm Benno mehr gegeben, so würde er den Betrag zwar eingesteckt, aber dabei sich gedacht haben: Er is meschugge wor’n! No ja, halb war er’s schonn immer!

Zum vierten Male sah Benno nach Martha mittags um ein Viertel über Zwei.

Dann erst traf sie im Bureau ein, wie es denn überhaupt die Angestellten nachmittags mit der Pünktlichkeit nicht allzu genau nahmen.

Denn um zwei Uhr waren die meisten Bureauchefs und Prokuristen, die die Börse besuchten, noch beim Mittagessen. Die Junggesellen unter ihnen leisteten sich sogar noch ein Verdauungsviertelstündchen im Kaffeehaus.

Die Nachmittagsunpünktlichkeit und die darauffolgende halbe Stunde süßen Nichtstuns, das sich freilich unter dem Schein eifrigster Arbeit verbarg, war übrigens den Beamten wohl zu gönnen. Denn gegen dreiviertel drei Uhr trafen die Ausgeher mit den Auftragsbüchern, Notizheften, Telegrammen von der Börse ein und brachten eine Unmenge Arbeitsstoff, der unter allen Umständen bis sechs Uhr abends bewältigt sein mußte.

Von Bureau zu Bureau wanderten diese Auftragsbücher und Notizhefte – jedes wollte sie zuerst haben – jedes fand, daß man sie in den anderen Bureaus über Gebühr lang zurückhielt. Streit und Schimpfen begannen als würdige Einleitung zu der Arbeitshetze, die nun alltäglich einsetzte.

Da gab es Stöße von Fakturen auszuschreiben, zu berechnen, nachzurechnen, Wertpapiere aus den Schränken und Gewölben zu entnehmen, vielseitige Nummerverzeichnisse anzufertigen, Couponbogen und Coupons auf ihre Richtigkeit zu prüfen, Wechsel zu girieren, endlose Einträge in dicke Bücher vorzunehmen, Briefe, Briefe, Briefe zu schreiben.

Da gab es Dutzende von Unklarheiten, Mißverständnissen, Fehlern, ewig wiederkehrenden Dummheiten.

Telephone und Haustelephone läuteten ununterbrochen, gellende Klingelzeichen riefen Angestellte in die Direktion und zu den Prokuristen, Türen wurden heftig zugeschlagen.

Jedermann befand sich in gereizter, überhitzter, aggressiver Stimmung, die sich bei der geringsten Kleinigkeit in Grobheiten und Wutausbrüchen entlud.

»Zum Donnerwetter, was legen Sie da für einen Wisch auf meinen Platz?«

»Das ist nicht meine Arbeit! Das geht mich gar nichts an!«

»Fragen Sie nicht so albern! Woher soll ich das wissen?«

»Es gibt doch nichts Dümmeres auf der Welt als ein Weib! Wenn wir nur keine Weiber mehr im Geschäft hätten!«

»Sie sehen doch, daß ich jetzt keine Zeit hab’! Scheren Sie sich zum Kuckuck!«

»Ach was, beschweren Sie sich bei der Direktion, wenn’s Ihnen nicht paßt!«

Mitunter wurden sogar Ohrfeigen angeboten, und manchmal kam es um ein Haar zu Tätlichkeiten.

Nur ein Beamter ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, das war der dicke Rehle. Rauchend und schnupfend behauptete er seinen Schalterplatz im Wechselbureau, mit unerschütterlichem Humor gefeit gegen alle Anstürme.

»Fräulein Scheckel, komm emal ’ebei! Schleich dich emal zu merr, mei Herzche! Was hast de dann da widder for’n Stiwwel zesammegerechent?«

Und nachdem das Fräulein »Scheckel« zerknirscht seinen Fehler eingesehen hatte:

»Da hast de mei Radiermesser! Geh hin unn besser’ dich! Sonst kriehst de dei Lebdag kaan Mann unn sterbst als ahl Jungfer, mit eme Mops unn zwaaundreißig falsche Zähn’!«

Es wäre freilich praktischer gewesen, das Fräulein hätte gleich ein Loch in die falsche Nota radiert. Denn die Rasur entging nicht dem geschärften Auge Rittershausens, dem alle Schriftstücke, ehe sie das Bureau verließen, vorgelegt werden mußten.

Und alsbald krähte seine langweilige Stimme: »Radierte Notas dulde ich nicht! Fräulein Bär, schreiben Sie die Nota ab!«

Vorsichtshalber zerriß er sie gleich in zwei Hälften.

»Schreib’ die Nota ab,« echote der dicke Rehle. »Merr hawwe ja Zeit! Es is noch lang bis Mitternacht!« –

»Guten Tag, Herr Stehkragen!« begrüßte Martha ihren Pultgenossen nachmittags.

»Guten Tag, Fräulein Nelke!« erwiderte Benno.

Sie quittierte die naive Huldigung wieder mit einem freundlichen Lächeln und reichte ihm gewohnheitsmäßig ihren Bleistift und Tintenstift zum Spitzen hin.

Benno war durch jahrelange Übung ein Künstler auf diesem Gebiete geworden.

So ein Bleistift is wie eine Zwiebel, dachte er. Da kommt auch immer eine Schal’ nach der anderen, bis merr auf den Kern stößt. Oder man kann auch sagen: er is wie ein Verband, oder wie e Wickelgamasch’!

Für alle Dinge und kleinen Ereignisse seines Lebens fand er Vergleiche und Bilder. Und wenn auch diese Metaphern oft recht kindlich und töricht waren, sie bereiteten doch seinem talmudistisch geschulten Geist eine harmlose Freude und eine gewisse Genugtuung, die nicht ganz frei war von unschuldiger Eitelkeit.

»Danke schön!« empfing Martha ihre messerscharf gespitzten Stifte zurück, die ihr der kleine, bucklige Benno mit der Grandezza eines Mundschenks überreicht hatte.

Und dieses »Danke schön« klang noch tausendmal schöner als vormittags das »Adjö«.

Das »Adjö«, das war das silberhelle Klingen einer Tischglocke, dieses »Danke schön« aber, das war das bedeutungsvolle Dröhnen der Sturmglocke oben im Dom, die nur bei Großfeuer geläutet wurde.

Und es war ja ein Großfeuer entstanden: Schon brannte der kleine Benno Stehkragen lichterloh.

Gegen vier Uhr gab es in der Industriebank eine kleine Vesperpause.

Die meisten Beamten, bis über den Kopf in dringlichen Arbeiten steckend, begnügten sich damit, ihre Brote und Brötchen auszupacken, um unter der Arbeit hie und da einen Happen abzubeißen.

Die natürliche Folge war, daß es alle Tage einige Fettflecke auf Briefen und Fakturen gab, die nun neu geschrieben werden mußten, was ebenso natürlich die Ursache zu neuem Ärger, neuen Vorwürfen, Schimpfen und Gezänk abgab.

Im Couponbureau, dessen Tätigkeit weniger von der Börse abhing, so daß sich hier die Arbeit gleichmäßiger auf den ganzen Tag verteilte, gönnte man sich eine geruhigere Vesperpause.

Aber während dieser Vesperpause blickte Benno nicht zu Martha hinüber.

Denn in dieser Vesperpause trat Herr Wittmann an das Pult, um kauend sich ein bißchen mit Martha zu unterhalten.

Benno steckte seine Nase tiefer in die Couponpäckchen, er wollte nicht hören, was die da drüben plauderten. Er wollte nicht.

Aber er konnte doch nicht hindern, daß Marthas helles Lachen zu ihm herüberdrang, und daß einzelne Sätze an sein Ohr schlugen wie Peitschenhiebe.

Meistens sprachen die beiden vom Theater.

Martha ging oft in die Oper, und auch Herr Wittmann schien über die Vorgänge vor und hinter den Kulissen gut unterrichtet zu sein.

Es fiel Benno auf, daß Wittmann seltener die Kunstwerke als die darstellenden Künstler kritisierte, die er offenbar für den wichtigeren Teil hielt, und daß er nach Altfrankfurter Tradition mit Vorliebe, auf Kosten der gegenwärtigen Bühnenkräfte, ehemalige, zum Teil längst verstorbene Theatergrößen Frankfurts himmelhoch pries.

Gar bittere Empfindungen flammten in Benno während dieser Vesperpause empor.

Der reine Himmel seines Kindergemüts überzog sich mit dicken, schwarzen Wolken, die Sonne war erloschen, und ihm war, sie würde nie, nie mehr scheinen.

Am liebsten hätte er sich die Ohren mit beiden Fäusten zugehalten.

Am liebsten hätte er den Kopf in ein großes Tintenfaß gesteckt, wie der Nikolaus im Struwwelpeter die bösen Buben. Um nichts zu sehen und zu hören.

Wenn ich jetzt nicht der Benno Stehkragen wär’, dachte er, sondern der Benno Strauß, – dann tät’ ich mein’ Kopf in den Sand stecken – und tät’ nix hören – und nix gucken, – sondern ich tät’ nur ganz hinten mit der Schwanzfeder abwinken: »Hört auf! Aufhören sollt ihr!!« – und ich tät’ …

Am liebsten hätte er jetzt den Bleistift und den Tintenstift Marthas genommen, die Stifte, die er mit so viel Hingabe gespitzt hatte, und hätte wie ein unartiger Schuljunge absichtlich die Spitzen abgebrochen: »Da! Da! So! Das ist dafür, daß du mich so mißhandelst!«





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